Wissen Sie, wo und wann die Werbung entstanden ist? Schwierig und das obwohl Werbung unseren Lebensalltag in einer allumfassenden Wucht Tag-für-Tag begleitet. Im Laufe eines Tages kommen wir mit mindestens 3000 Werbebotschaften in Kontakt. Werbung ist für die Alltagskultur im 21. Jahrhundert präsenter als Politik und Kunst zusammen. Und doch wissen wir relativ wenig über die „Geschichte der Werbung“. Das hat Auswirkungen: Da macht ein bedeutender Lebensmitteleinzelhändler einen ambitionierten Werbespot bzw. im unternehmenseigenen Jargon der offizielle „Weihnachtsclip“ über einen vereinsamten alten Mann, der seiner Familie suggeriert, er sei verstorben, um sie dann alle gemeinsam zu seiner vermeintlichen Trauerfeier begrüßen zu können… ein wunderbar-emotionaler Film und dennoch – aus markensoziologischer Perspektive – einer der schlechtesten Werbespots, die in den letzten Jahren aufwendig (in Südafrika) produziert wurden. Warum? Zur Beantwortung dieser Frage hilft die Beschäftigung mit der „Geschichte der Werbung“.
Werbung machten nur Quacksalber
Als massenhaftes Phänomen trat Werbung zunächst im 15. und 16. Jahrhundert auf … und zwar an den Rändern des Wirtschaftssystems. Die Hersteller und Produzenten waren in dieser Zeit “zünftig”, d.h. fast alle Waren unterlagen dem “Zunftzwang”, durften also nur unter Kontrolle eines Meisters hergestellt werden. Um dies auch außerhalb einer Stadt garantieren zu können, entstanden die ersten Markenzeichen im Sinne von Zunftzeichen. Sie gaben die klare Botschaft aus: Dieses Produkt wurde von einem zünftigen Meister hergestellt. Zum Verständnis dieser Zünfte gehörte es, keine Werbung zu machen: Wer gut arbeitet, benötigt keine Verkaufsförderung. Werbung entstand also dort, wo das Produkt keiner Handwerksordnung unterlag. Im Mittelalter waren dies vor allem Bücher oder äußerst dubiose “Heilmittel” und “Wunderelixiere”. Noch heute weigern sich gestandene Handwerksmeister Werbung zu machen: “Die Arbeit spricht für sich”. Die Werbung hatte ein Geburtsproblem: Sie war etwas anrüchiges und unredliches … dort entstanden, wo die Scharlatane und Quacksalber zu Hause waren. “Ist doch nur Reklame” sagt der Volksmund häufig, wenn man den Anpreisungen eines Fernsehspots erfolgreich widersteht. Was hat das mit einem der resonanzstärksten (gemessen an der Klickrate) Werbeclips des Jahres zu tun? Wenn Werbung dieses negative Image hat, so wird sie alles unternehmen, um nur nicht eines zu sein: Werbung! Die Folge: Seit gut drei Jahrzehnten versuchen die Werbeprofis in Hamburg, Berlin, München und Düsseldorf alles, aber auch wirklich alles, damit Werbung eines NICHT macht: Werben. Werbung soll heute unterhalten, aufrütteln, auf Missstände hinweisen, aber bitte, bitte nicht offensichtlich dafür sorgen, dass sich ein Produkt oder eine Dienstleistung verkauft. Diesen Glauben erfolgreich verbreitet zu haben, ist die eigentliche WERBEleistung der Branche.
Werbung wird sich selbst immer ähnlicher
Was ist die eigentliche Aufgabe von Werbung? Markensoziologisch ist die Aufgabe klar: Werbung erzeugt über Raum und Zeit hinweg Resonanz im Publikum für einen nicht präsenten Gegenstand. Um dies zu erreichen, muss die Werbung …
1. … selbstähnlich, d.h. an den entscheidenden Leistungsinhalten orientiert sein.
2. nie aufhören, eine Botschaft über das Produkt zu vermitteln.
Eigentlich eine Selbstverständlichkeit und doch zeigt die Realität, dass es anscheinend unsexy ist, wenn eine Werbung versucht, in klar erkennbarer Weise über ein Produkt zu informieren. Und deshalb entsteht ein EDEKA-Werbespot, der die abstrakte Botschaft vermittelt, dass wir alle mehr Gemeinsamkeit in einer hektischen Welt suchen sollte. Dies ist ethisch eine wunderbare Haltung, aber sie ist für das Tagesgeschäft von EDEKA nicht relevant. Sicher kann umständlich hergeleitet werden, dass das Einkaufen eine gemeinschaftsbildende Handlung ist, aber Gemeinschaft und Familie wären auch für andere Marken äußerst wichtig und haben nichts mit der real erfahrbaren Produktleistung von EDEKA zu tun. EDEKA ist auch heute kein philosophischer Treffpunkt engagierter Weltverbesserer, sondern ein qualitativ hochwertiger Lebensmitteleinzelhändler mit einer Vielzahl tief verwurzelter Leistungsinhalte … Aber das weiß doch jeder und deshalb sollte man die psychologischen Tiefenmuster herausarbeiten, sagt der Werber an dieser Stelle und leitet damit die Argumentation ein, dass sich die Sympathie für wichtige Themen in der Werbung automatisch auf das Produkt übertragen würde … und außerdem hätten es die Menschen satt, mit dumpfen Anpreisungen vollgedröhnt zu werden. Die Themen lägen außerhalb der Marke.
Diese Logik ist unter dem Begriff der “Imagewerbung” zusammengefasst. Imagewerbung darf alles, außer informieren. Positive Werte würden sich sogleich auf die damit verknüpfte Marke übertragen. Dieser Glaube ist Mumpitz … bloße Ideologie und es gibt keine ernstzunehmende Studie, die diesen Zusammenhang beweist. Und zum Schluss weiß jeder, dass eine Kaufentscheidung nicht auf Basis “eines guten Gefühls” (erzählen Sie das mal ihrer Frau beim Kauf einer Waschmaschine) entsteht. Klar ist, dass sich Werbung zunehmend verselbständigt hat. Sie reagiert auf sich selbst und deshalb fordert uns Werbung zunehmend auf, unsere Eltern öfter zu besuchen oder mehr wir selbst zu sein oder das Leben entspannt zu genießen … welcher Werber traut sich noch zu sagen, dass er einfach nur über das Produkt erzählen möchte: Schließlich werden Werbeagenturen dafür bezahlt, kreativ d.h. künstlerisch tätig zu sein.
Kreativität ist kein Wert an sich
Das Problem ist allerdings, dass Kreativität keine ökonomische Kategorie ist. Im Gegenteil: Marken funktionieren, weil eindeutige Erwartungshaltungen in einer Kundschaft bestehen. Echte Kreativität braucht es allerdings in der Markenführung, um ein bestehendes Markenthema über zehn oder zwanzig Jahre zu variieren. Aus den Beschränkungen des Leistungsterritoriums EINE Geschichte herauszuarbeiten (und durchzuhalten) ist die wahre Herausforderung, der sich ein Werber stellen muss. Sich aus einem leistungsfernen Umfeld Themen für die Kommunikation zu suchen, kann jeder. Ein definiertes Thema allerdings so aufzubereiten, dass die Erwartungshaltung der Marke über die Zeit und in ihrer Zielgruppe exakt getroffen wird, ist Handwerkskunst.
In diesem Sinne ist der EDEKA-Spot “Heimkommen” ein menschlich herausragender Beitrag für mehr Achtsamkeit und soziale Fürsorge und trifft den Nerv der Zeit (BILD-Interview vom 02.12.15 mit den Machern: “Aber natürlich waren wir überzeugt, dass wir Dinge ansprechen und thematisieren, die viele Menschen bewegen.”), er ist aber gleichzeitig keine Werbung für die ihn bezahlende Marke. Dass dann schließlich auch noch der Dienstleister – und nicht die Verantwortlichen auf Marken bzw. Unternehmensseite – über den Clip interviewt wird, ist bezeichnend: Denn es geht nicht um die Marke, sondern nur um die Geschichte des Spots. Das muss man sich als Unternehmen erst einmal leisten können: Viel Geld für irgendwelche schön erzählten Märchen mit einem hohem ethischen Anspruch auszugeben.