Im Jahr 2015 war es vollbracht: Lego wurde erstmals in seiner Geschichte zur wertvollsten Marke der Welt gekürt (Quelle: Untersuchung der Brand Finance Global 500). Hinzukamen weitere Erfolgsmeldungen: Lego ist auf Platz 5 der weltweit am meisten geschätzten Marken (brand-reputation). 2015 wurden 500 Millionen Steine gebaut und 75 Millionen Kinder erreicht. Jeder Haushalt weltweit besitzt – statistisch betrachtet – 102 Legosteine. Die gestützte Markenbekanntheit beträgt unfassbare 98% – global! Perfektes Kindermarketing.
Man stelle sich vor: Ein Unternehmen aus dem beschaulichen dänischen Örtchen Billund entwickelt sich in den mehr als 80 Jahren seines Bestehens zu einem der erfolgreichsten globalen Brands und das, obwohl die sog. Zielgruppe strukturell eingeschränkt ist: Lego produziert Kinderspielzeug (mit dem immer mehr Erwachsene spielen und sogar eigene Communities gründen). Eine wahre Erfolgsstory – zwischen Kuhwiesen und Smörebröd.
Was für Wirtschaftsanalysten und Investoren ein lukratives Investment ist, vor allem nachdem die Marke zu Beginn der 1990er und 2000er mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte und mancher Beobachter die Zeit für “nichtdigitales” Spielzeug für abgelaufen erklärte, lohnt aus markensoziologischer Perspektive dennoch einige Gedanken. Dabei geht es in diesem Text nicht nur um eine streng wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Unternehmen, sondern auch um – durchaus im konkreten Wortsinn – merkwürdige Beobachtungen. Denn auch Markensoziologen sind Kunden und Väter, die mit ihrem Nachwuchs Spielzeugabteilungen, Flagship-Stores und sogar Legoland® Discovery Center besuchen. Dies beinhaltet z.B., an einem heißen Sommertag in Berlin viele Stunden unter(!) dem Potsdamer Platz zu verbringen, um sich dort in einer fulminanten aber fensterlosen Mischung aus Pommesbude, Rummelplatz und Robinson-Club aufzuhalten (und sich zu wundern, wie widerstandsfähig die menschliche Psyche selbst im fortgeschrittenen Alter ist). Was fällt dabei strukturell auf?
Zu Beginn der Beobachtung der Marke Lego steht das Staunen
Markensoziologisch kennzeichnet Lego im Jahr 2016 (vergleichbar dem skandinavischen “Bruder” IKEA) eine nahezu perfekte Markenführung. Die Lego-Entscheider strukturieren und managen das Tagesgeschäft besser als es jedes Lehrbuch vorgeben könnte … und zwar auf allen Ebenen: Nichts bleibt dem Zufall überlassen, egal ob Store oder berlinerisches Miniatur-Legoland die Angestellten grüßen höflichst, strahlen überirdisch freundlich die Besucherscharen an, die Distribution ist selektiv und Preis- und konditionentechnisch im Fachhandel und Internet perfekt aufgestellt (allein Galeria Kaufhof traut sich bei langsam laufenden Artikeln marginale Preisnachlässe zu gewähren). Besonders gekonnt beherrscht die Marke den Produktlaunch sowie die Produktinszenierung – sie gibt die Standards vor. Der jährlich erscheinende Lego-Katalog ist heute die eigentliche Bibel in den Kinderzimmern dieser Republik und kann mit Seiten- und Preisangaben nach wenigen Tagen von sechsjährigen Jungen fehlerfrei rezitiert werden (ganz im Gegensatz zu den ambitionierten Selbstlernheften, die Väter verzweifelt versuchen ihrem Nachwuchs anzureichen …). Die einzelnen Produktwelten sind, sowohl am Point-of-Sale wie auch durch eine umfassende mediale Orchestrierung omnipräsent für ein Kind (City, Ninjago, China, StarWars, Elves, Technik usw.). Auf Schulhöfen lassen sich mit Verzögerung um wenige Wochen die jeweiligen Produktlaunches an Pausengesprächsthemen, Produkt-Equipment (Magazine und Hefte) und Spielthemen (“Ich bin Cracker und Du bist Laval.”) hervorragend nachvollziehen. Diese Form der Relevanzvermittlung in Echtzeit gelingt nur, weil die Marke auf allen Ebenen ihr jeweiliges Thema extensiv befeuert: Von RTL2 (dem Alptraumsender jedes Pädagogen. O-Ton Papa: “Wir hatten doch besprochen, dass Du nur KIKA schauen darfst!), über den LegoClub, PR-Artikel, kleine Internetfilme und Lego-Magazine wird eine Warenwelt aufgebaut, der sich ein Kind selbst in bürgerlicher Wohlbehütetheit nur schwer entziehen kann … und die bei markensoziologisch geprägten Vätern Staunen, Faszination und Überraschung und irgendwann ein schwer zu fassendes “ungutes Gefühl” hervorruft: Was ist das für ein Unternehmen, dem es gelingt, das Denken und Fühlen einer Kindergeneration auf den Tag genau zu bestimmen – weltweit?
Kann Markenführung zu perfekt sein? Ja.
Besonders relevant wird diese Fragestellung, wenn man Lehrbuch und Markenrealität miteinander in Beziehung setzt, denn – theoretisch betrachtet – macht diese Marke alles, aber wirklich alles richtig. Man schicke alle selbst ernannten Markenberater zum Grundstudium dorthin … und kann sich sicher sein, dass sie danach endlich etwas ordentliches lernen werden, denn danach gibts nichts mehr zu beraten.
Lego beherrscht die Klaviatur von Markeninszenierung, Markenrelevanz und Werbeinstrumentierung wie ein warenwirtschaftlicher Maestro und doch entsteht ob soviel Perfektion ein “ungutes Gefühl”, welches ansonsten nur einige servicetechnisch durchorganisierte und -strukturierte amerikanische Großunternehmen im aufgeklärten (alten) Europa erreichen. Auf den Punkt gebracht: Hier ist zwar alles richtig, aber nicht alles authentisch. Ähnlich wie in der dämonischen Lego-Welt unter dem Potsdamer Platz bunte Verschalungen, die rauen Betonwände dahinter übertünchen, so wirkt der Eindruck, dass der kinderfreundlich-lebensbejahende Auftritt der Marke eine gnadenlos-perfide Ausnutzung kindlicher Begeisterungsfähigkeit ist. Keine Sorge: Es wird nun nicht um eine engagierte Konsumkritik gehen, dafür ist der zivilisatorische Zug schon über alle Berge, vielmehr geht es um eine markentheoretische Einordnung, ob sich die Marke mit dieser Haltung eher schwächt oder stärkt.
Kindermarketing ist in der Werbebranche kein Tabu
Es ist kein Geheimnis, dass clevere Marketingstrategen darauf hinarbeiten lebenslang bestehende Markenbeziehungen zu schaffen. So ist es kein Wunder, dass die meisten Kinder bei ihrer Einschulung schon Dutzende von Markenlogos erkennen und zuordnen können. Dies ist Resultat einer Marketingentwicklung, die bereits Ende der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts begonnen hat: Die “Konsumarisierung des Kindes” (Norma Pecora), d.h. die Entwicklung kindergerechter Güter und Dienstleistungen wird seit gut zwei Jahrzehnten äußerst professionell vorangetrieben: Berater, Fachschriften und Kongresse zum Thema “Kindermarketing” sind inzwischen gesellschaftlich akzeptierter Standard. Das mag man beweinen, Änderung scheint allerdings nicht in Sicht. Es geht um Geld, um Märkte. Schließlich umfasst der Anteil an Kinderwerbung heutzutage ca. 10-15% der totalen Marketingbudgets. Diese Gelder wollen professionell investiert sein.
Nicht alles was Geld bringt, ist gut für eine Marke
Bedeutet ein professionelles Kindermarketing alle Wertschöpfungschancen zu nutzen, so wie es Lego zur Zeit unternimmt? Betriebswirtschaftlich Ja, wertschöpfungsorientiert Nein. Warum? Erstes Beispiel: Zahlreiche Einzelhändler haben inzwischen Süßigkeiten aus den Kassenbereichen entfernt, weil ihnen klar geworden ist, dass man auch für eine “schnelle Mark” so etwas nicht macht – nimmt man die Einkäufer nicht nur als Geldgeber, sondern als Kundschaft ernst und will ihnen als anständiger Kaufmann begegnen. Marketingtheoretisch – im Sinne der Kasse – müssten alle Einzelhändler die Kassenbereiche mit Süßwaren und Kinderspielzeug vollstopfen; kein Zweifel das sich die Waren gut verkaufen würde, aber es wird nicht gemacht, weil es sich verbietet die Schwäche seiner Kundschaft (also seines Ernährers) auszunutzen. Zweites Beispiel: Auch mag manches Unternehmen seine Mitarbeiterschaft detailliert verpflichten, wie es die Kundschaft zu begrüßen und zu verabschieden hat und dennoch wirken vorgestanzte und auswendig gelernte Floskeln im Supermarkt, beim Restaurantbesuch oder beim Hotel-Check-In nicht markenförderlich, sondern zutiefst zerstörerisch: Ich werde eben gerade nicht als individueller Kunde wahrgenommen, sondern nur als Umsatzbringer. Wer kennt nicht die Frage “Wie war Ihre Anreise?” bei Ankunft im Hotel, die eigentlich keine Antwort erwartet … diese Form der “Kundenpflege” spielt “Service” … sie basiert auf kulturell verankerten Vorstellungen, was gut oder schlecht, höflich oder unhöflich ist, ohne aber faktisch so zu agieren … und erreicht auch bei nur mäßig intakter Psyche das Gegenteil beim Gast (hoffentlich).
In einer falsch verstandenen Businesslogik glauben viele MBA-Absolventen und McKinsey-Anhänger, das eine Zentrale immer die richtigen Entscheidungen fällen würde und klüger sei als die Mitarbeiterschaft vor Ort. Warum? Es gibt für diese Einschätzung keine validen Beweise. Sicherlich bedarf es Leitlinien, damit Marke überhaupt Marke sein kann (Stichwort: Gleichartigkeit der Leistungen), aber jedes lebende System kennzeichnet, dass es seine grundlegende Struktur zwar stets beibehält, sich aber der jeweiligen Umwelt anpasst, z.B. sieht ein McDonalds an der Autobahn anders aus, als an der römischen Treppe in Rom). Damit agiert eine Marke effizient, ohne ihr Erfolgsmuster aufzugeben. Hinzukommt: Wenn sich eine Zentrale irrt, so reproduziert sich ein Fehler auf alle Point-of-Sales ausnahmslos – mit dramatischen Konsequenzen. Was folgt daraus? Marken benötigen Varianten und Toleranzen, um als glaubwürdig und natürlich zu gelten. Am ehesten werden diese Toleranzen durch die sie vertretenden Menschen gelebt. Natürlich ist ein “Hineinwachsen” in eine Marke um vieles schwieriger und langwieriger als die bloße Verhaltensverordnung (vor allem mit preiswerten Minijobbern …), aber wer wirklich Marke stärken will, kann sich nicht mit Oberflächlichkeit begnügen. Jede starke Marke lässt Variation und Fehler zu. Man kann es noch pointierter denken: Erst wenn Fehler geschehen, gibt sich ein Unternehmen die Möglichkeiten – aus sich selbst heraus – wieder neue Marktchancen zu entwickeln bzw. sich seiner eigenen Stärken und der eigenen Grenze zu vergewissern.
Und wenn Perfektion und Omnipräsenz zu Markenschwächung führen?
Was würden sie von Menschen halten die vollkommen fehlerfrei sind? Sympathisch? Oder entsteht nicht Zuneigung vor allem dann, wenn uns ein Gegenüber mit all seinen Stärken und Schwächen begegnet? Marken dürfen nicht zu perfekt, zu kontrolliert, zu strukturiert sein, wollen sie langfristig Bestand haben. Die Natur kennt keine perfekten Systeme, denn Perfektion bedeutet Stillstand. Stillstand ist aber in einer sich stets verändernden Umwelt brandgefährlich. Wir sind es gewohnt, dass nur dezidiert geführte Marken gute Marken sind, aber die Lebenswirklichkeit beweist auf lange Sicht, dass Marken Fehler benötigen bzw. Verkaufspotentiale auslassen müssen, um sich Sympathie und Zuneigung zu sichern … wenn also eine Marke wie Lego, sich perfekt inszeniert und jeden 60-Sekunden Videoclip so (gekonnt) produziert, dass alles auf den Verkauf eines neuen Produktes hinwirkt: “Papa, das wünsche ich mir zum nächsten Geburtstag …”, dann ist dies nicht grundsätzlich positiv. An dem Punkt hat das Unternehmen – betriebswirtschaftlich – sein Ziel erreicht, aber “Papa” wird langsam, aber zunehmend sicher seine Begeisterung gegenüber der Marke reduzieren: “Sohn wie wäre es denn stattdessen mit XY oder Z?” Wenn der Verkaufsdruck im Hintergrund alles im Vordergrund überlagert, dann spielt die Marke mit ihrem eigentlichen Kraftzentrum: Der Marken-Sympathie und dem Marken-Vertrauen. Marke beruht immer auf freiwilliger Anziehungskraft und diese gelingt nur, wenn ich als ehrbarer Kaufmann die Kundschaft (Vater und Sohn …) nicht ununterbrochen instrumentiere …
Ein ehrbarer Kaufmann zwingt seine Kundschaften nicht
Wenn solche Gedanken bei stiller und hochachtungsvoller Betrachtung des Nachwuchses im vorweihnachtlichen Konsumgetümmel kommen, möchte man mehr über das Unternehmen wissen und stößt bei der Recherche auf einen interessanten Vortrag des Marketing Head Europe Central der Lego Group: Unter dem Titel “Giant in a kids mind“ führt Michael Stenderup im Juni 2015 auf dem APG-Kongress (Kongress der Strategischen Planer in Werbeagenturen) in Hamburg folgende Prinzipien der Lego Group aus:
- Bezogen auf das Launching neuer Themenwelten: “Launching a big bang – usually every second or third year (…) where we try to capture the minds of the kids.”
- Bezogen auf die Zielgruppe: “We do global marketing campaigns. Global marketing campaigns are possible as kids are much easier to handle than adults … kids are very much the same. A chinese kid is very similar to an american kid.”
- Bezogen auf das Selbstverständnis der Marke, dass sich von einem “produkt-” zu einem “geschichtenorientierten” Unternehmen entwickelt habe: “Ninjago was the new model for the company as we worked together with 900 kids to create a new world that was based on their wishes. Their phantasy is started with the frame we give them. These are just story starters. Kids need that setting to develop their own stories.”
Alles durchdacht, alles verstanden … und doch: Es fehlt das Gefühl für die Kundschaft, die Begeisterung und der Wille mit seinem Produkt die Welt eines Kindes zu bereichern … weil man seine Kunden (Kinder UND Eltern) wertschätzt.
Erfolg erwächst manchmal aus der Beschränkung
Jedes Unternehmen der Welt muss Geld verdienen und dies definiert seine Daseinsberechtigung. Dennoch bleibt die Frage, ob ein Zuviel an Analyse und Instrumentierung, ein Zuviel an Berechnung und passgenauer Adaption, ein Zuviel an unterbewusster Erziehung der Kundschaft – langfristig betrachtet! – die Marke stärkt. Der Aspekt der Gewinnmaximierung und Effizienz ist eine moralische Fragestellung, allerdings agiert auch die Marke Lego in einem Feld, das glücklicherweise immer noch ethisch geprägt ist, indem wir Kinder als besondere und herausgehobene Wesen betrachten, deren Lebensneugier wir nicht ausnutzen sollten. Wenn sich also die Lego Group über ihre wirtschaftlichen Erfolge freut, so sollte sie sich auch die Frage stellen, ob sie weiterhin alles unternimmt, um diese ethische Komponente ihres Tuns glaubhaft zu pflegen, d.h. ob sie Gutes für ihre Kundschaft will (fernab von – wieder – perfekt aufbereiteten “Codes of Conduct” und Sozialinitiativen). Auch wenn dies manchmal kurzfristigen Verzicht auf das schnelle Geschäft beinhalten könnte. Aber dann wäre Lego wieder das richtige und wirkliche, das “gute Lego” dem auch Papa vertraut.
Nachtrag:
Neben der grundlegenden Strategie und den daraus resultierenden Irritationen gelingt es der Marke aber auch, den Zeitgeist durch eine behutsame Anpassung an gesellschaftliche Entwicklungen abzubilden. Jüngstes Beispiel ist die resonanzstarke Integration des Events “Europameisterschaft” in den eigenen Unternehmenskosmos. So wird die deutsche Nationalmannschaft als Lego-Figuren aufgelegt und angeboten. Medial wird diese Produktausweitung durch bspw. die “kleinste Pressekonferenz der Welt” verstärkt. Die Besonderheit der Marke liegt an der Beibehaltung des eigenen “genetischen Codes” bei gleichzeitiger Integration zeitgeistiger und regionaler Besonderheiten … keine sklavische “identische Reproduktion”, sondern die Realisierung einer gleichsam organischen Selbstähnlichkeit in der Markenführung.
Ich würde gerne eure Quelle zum Markenbekanntheitsgrad von 98% weltweit sehen wollen. Lieben Gruß
Sehr gerne. Die Zahl entstammt den Vortrag von Michael Stenderup, Marketing-Head Lego vom 12.06.2015: https://www.facebook.com/apg.deutschland/videos/865682416848056/