Machen wir uns im Marketing nichts vor: Fast alle aktuellen Marketingtheorien basieren auf der Marktsituation der 1960er Jahre. Dem goldenen Zeitalter der Markenartikler.
Zu dieser Zeit sind die Regale überschaubarer Fachhändler angefüllt mit der Ikonen der Markenlandschaft. Alternativen zu Markenprodukten? So gut wie keine … seither hat sich der Einzelhandel und mit ihm die Herstellersituation vollständig verändert: 1962 eröffnete in Deutschland der erste ALDI-Markt und mit ihm der erste sog. Discounter. Grundlegend für diese neue Form des Lebensmitteleinzelhandels war: Durch ein verdichtetes Sortiment wird die Investitionsstruktur drastisch reduziert. Die eingesparten Kosten werden direkt an die Kundschaft weitergegeben (in Frankreich eröffnete ein Jahr später der erste Hypermarché Carrefour). Schon bald konzipierten und integrierten diese Händler eigene Produkte, da sie zum Teil nicht von den durchgesetzten Produzenten mit Waren aus Gründen fehlender Preisdisziplin bzw. der Sorge um Rufschädigung beliefert wurden (“Ausschlussklauseln” existierten nicht) … die “weißen Marken” oder “No-Name“-Produkte entstanden. Inzwischen beträgt der Anteil der Discountmärkte am LEH ca. 40% und ist nach Jahren des rasanten Wachstums ins Stagnieren geraten (große Umsatzanteile gehen nunmehr auch in den äußerst preissensiblen Onlinehandel), ist aber weiterhin hoch.
Die entscheidende Frage ist: Wenn das Marketing seine Erkenntnisse in den letzten Jahrzehnten weiter und weiter verfeinert hat, warum wird die Marktmacht von Discountern und No-Names zunehmend stärker? Wenn wir immer genauer zu wissen scheinen, wie Menschen kaufen und dieses Know-how operationalisieren, warum verlieren dann Fachhandel und Markenikonen immer weiter Bedeutung und Marktmacht? Alle vermeintlichen Erfolgsrezepte und Strategien des klassischen Marketing helfen anscheinend Markenberatern, Werbeagenturen und Marktforschungsinstituten, aber nur marginal den Auftraggebern. Aus diesem Grund verschanzt sich die vereinigte Riege der Marketingexperten hinter einem neuen, vermeintlich erfolgsversprechenden Konzept, dass unter den Stichwörtern “Love brands” oder “Passion brands“, wahlweise “Emotional branding” auftritt: Je mehr die Marken in Gefahr geraten, desto “emotionaler” sollten sie sich geben. Am Ende ergibt sich das Resultat: Das Marketing hat versagt.
Discounting und Deindustrialisierung gehen Hand-in-Hand
Wie lässt sich diese Entwicklung genauer verstehen? In der Anfangsphase der Discountmärkte nutzen einige Produzenten die Chancen, die sich bei den rasant wachsenden neuen Formen des Einzelhandels ergaben. Ein Großteil der heute stark distribuierten Marken haben frühzeitig ihre Handelsstruktur angepasst … teilweise mit großem Erfolg, aber auch immer mit dem Risiko, sich auf Gedeih und Verderb dem Diktum der immer bedeutender werdenden Discountabnehmer anzupassen … dabei haben die Lebensmittelproduzenten immer noch einen entscheidenden Vorteil zu Unternehmen, die beispielsweise Kleidung, Schuhe oder Accessoires anbieten: Ihre Produktion ist nur schwer ins ferne (weil billigere) Ausland verlagerbar. Auch wenn sich heute in Tielfühlprodukten Erdbeeren aus China wiederfinden, so ist gerade in Zeiten in denen “Frische” eine immer wichtigere Rolle spielt, eine Produktionsverlagerung nur schwer möglich. Man kann sicherlich konstatieren, dass die zunehmende Preisreduktion direkte Auswirkungen auf die Deindustrialisierung Nordamerikas und Europas hatte und weiterhin hat (so stellte die amerikanische Presse im Rahmen der Eröffnung der Olympischen Spiele am 27.07.2012 in London fest, dass sowohl die Kleidung der einmarschierenden amerikanischen Athleten wie auch die mitgeführte amerikanische Flagge aus chinesischer Produktion stammten …).
Herkunft und Geschichte sind nicht kopierbar
Der Ausweg vieler Marken aus diesem Dilemma ist das Beschwören einer einer nicht kopierbaren Herkunft und Geschichte. Maschinen und selbst Qualitätsstandards können reproduziert werden, aber die Leistungsgeschichte eines Unternehmens – eingebettet in eine spezifische (geografische) Herkunft – ist etwas, was kein Ingenieur oder Ökonom leisten kann. Unternehmer haben daher die Aufgabe im Spannungsfeld “Kostendruck” und “Spezifika”, eine betriebswirtschaftlich gesunde Balance zu entwickeln. Findig ist, wer seine (geschichtliche) Herkunft betont und den genetischen Code der Marke pflegt, aber die betriebswirtschaftlichen Faktoren berücksichtigt: So produziert die französische Markenikone Petit Bateau ihre bourgeoisen Hemdchen, Höschen und Kleidchen schon längst nicht mehr in Frankreich, sondern in Marokko und Tunesien. Der CEO der Firma, Christian Blanckaert, rechtfertigt den dennoch hohen Preis mit der “consonance France“, d.h. der tiefen Verbindung mit der “französischen Kulturgeschichte” und dem “einzigartigen Stilempfinden” der Marke bis heute. Das Produkt kann also im Ausland hergestellt werden, wenn es treu sein Gestaltmuster pflegt. Der FIAT 500 wird mitnichten in Italien gebaut, sondern in Polen. Der Dacia Logan aus dem Renault-Konzern weder in Rumänien oder gar Frankreich, sondern in Marokko (das hochinnovative Elektroauto von Renault allerdings in Frankreich …).
Die Marke ist mehr als die Summe ihrer Leistungen
Die Vorstellung, dass sich Marken allein durch faktische Leistung differenzieren, ist in Zeiten “fast perfekter” Produkte zumindest kritisch zu betrachten. Anders formuliert: Macht es als Markenhersteller Sinn, einen Rasierer mit fünf oder zehn Klingen anzubieten, wenn bereits die dreifache Klinge die Käufer befriedigt? Macht es Sinn, die Geschichte einer Marke zu betonen, wenn inzwischen jeder Anbieter die Gründungsväter des Unternehmens bemüht, wilde Geschichten baut und mit “seit xxxx” wirbt. In den 1980er Jahren wurde der Erfolg einer Marke daran gemessen, ob die Produkteigenschaften den Erwartungen potentieller Nutzer möglichst passgenau entsprächen (“Zielgruppen“). Hatte die Markenführung ein gutes interpretatorisches “Händchen” entwickelt, war der Markenerfolg an sich garantiert. Diese Logik greift aber nicht mehr, wenn der Produktnutzen so differenziert und spezialisiert ist, dass er irrelevant ist: Wenn ein technisches Gerät Tausende von Features bereit hält von denen aber zu 99% nur fünf genutzt werden, dann haben die überlegenen Produkteigenschaften keine Kaufentscheidungsrelevanz mehr. Die Tatsache, dass das erfolgreichste Auto des Renault-Konzerns der Dacia ist oder Pampers von seiner Zweitmarke “Pampers simply dry” weitaus mehr verkauft, als mit den klassischen Premium-Pampers (“Trocken ist irgendwann einfach trocken”) macht deutlich, dass ein Zustand der Produktoptimierung in vielen Bereichen und Segmenten eingetreten ist, der ein bloßes Verdeutlichen des überlegenen Produktnutzens absurd scheinen lässt … mit fundamentalen Auswirkungen darauf wie sich eine Marke zu verstehen hat. Wieviele bekannte und renommierte Marken sind inzwischen fast vollkommne verschwunden, obwohl sie ihre herausragenden Leistungen gepflegt haben, aber diese Leistungen als solche keine Resonanz mehr entwickelten. Die Marke ist immer mehr als die Summe ihrer Leistungen!
Marke ist Gemeinschaft
Zweifellos ist die primäre Aufgabe der Marke die Verdichtung von Komplexität in einer zunehmend haltlos werdenden Welt … der Schlüssel zum Verständnis liegt vor allem in der markensoziologischen Differenzierung von Marke als gemeinschaftliches Bündnissystem. Während vor dem postmodernen Zeitalter Menschen ihre “Heimat” in Familie, Dorf, Klasse, Religion oder politischer Sozialisation fanden, so haben mit dem Wegbrechen dieser tradierten Gemeinschaften Marken diese Lücken gefüllt: Menschen verstehen sich – man mag es beweinen – heute als Kunde von … oder gar als “Jünger der Marke xy” … dieser Zusammenhang erklärt überhaupt erst die weltweite Omnipräsenz der Marke als Wirtschafts- und Kulturkörper. Eine allein rationale Charakterisierung der Marke läuft deshalb zu kurz. Zwar sind Leistungen für die Orientierung entscheidend, aber darüber hinaus muss die Marke den menschlichen Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft Gleichgesinnter befriedigen … will sie langfristig erfolgreich sein. Oder in der Logik des Kultursystems: Eine Dorfgemeinschaft bietet dem Einzelnen nicht nur Heimat, weil dort Häuser stehen, sondern auch weil in einem systemischen Zusammenhang Emotionen zu den Mitgliedern der Gemeinschaft wirksam sind. Dieser Zusammenhang bedingt die Frage wie eine Marke kommunizieren sollte: Sie kann (und muss!) den Produktnutzen nach vorne stellen und die erwarteten Attribute selbstähnlich erbringen, darüber hinaus ist es aber ebenso Aufgabe der Kommunikation das Selbstverständnis der Markengemeinschaft in typische Muster und Codes zu übersetzen. Eine Flagge ist immer mehr als eine Zeichnung, sondern sie löst beim Betrachter Zuneigung, Freude oder aber Ablehnung oder gar Hass aus. Die entscheidende Differenz zwischen den tradierten Gemeinschaften wie Familie oder Dorf ist, dass die Marke ein freiwilliges Bündnis ist, welches der Mensch eingehen kann. Marken sind dabei mit die eingängigsten und schnellsten Möglichkeiten, seine Identität zu definieren. Oder: Wir sind das, was wir haben.
Die verloren gegangene Heimat
Was heißt das? IKEA bietet solide Produkte zu einem vernünftigen Preis an. Diese faktische Basis zementiert den Unternehmenserfolg. Darüber hinaus verkörpert IKEA allerdings auch ein gemeinschaftliches, fast politisches Konzept: IKEA möchte, dass es JEDER schön haben kann! Diese Philosophie immunisiert die Marke teilweise gegen Preiskämpfe. Viel wichtiger ist allerdings, dass die Marke “Werte” in einer “wertlosen” Welt repräsentiert … die Welt von Hilfinger oder Occitane en Provence hat es so nie gegeben oder aber sie besteht schon längst nicht mehr … und doch leben sie in diesen Marken weiter. Die o.g. Marken machen ihre Verkaufsräume zu “idealen Reisebüros” aus denen man “Souvenirs” mitbringt und sich so ein “Stückchen Mythos” konserviert. In diesem Fall liegt die eigentliche Kraft der Marke nicht zwangsläufig der Herstellungsprozedur einer Seife, sondern in der Möglichkeit Teil der Gemeinschaft “Provence” zu sein.
Marke wieder zu ihren Ursprüngen führen:Anonymität überwinden
In der Vorstellung von Gemeinschaftsbildung liegt das zukünftige Erfolgsmodell starker Marken, denn das Internet und seine Netzwerke geben Marken die Möglichkeit mit ihrer Kundschaft direkt zu kommunizieren: Indem die Marke nunmehr in einem fast privaten Verhältnis mit ihren Kunden kommunizieren kann, geht der Markenartikel wieder zu seinem eigentlichen Daseinszweck zurück, nämlich die Anonymität der Warenmärkte zu überwinden. Machen wir uns nichts vor: Zu Beginn einer Marke steht meist nicht der primäre USP, also der Produktnutzen im Vordergrund, sondern die Besonderheit der Firma bzw. der Gründer, die eine “irgendwie besondere Idee” haben, die man unterstützen will … und die schließlich überzeugt (Die Glaubwürdigkeit dieser Gründer ist die primäre Durchsetzungskraft in der Gründungsphase … sie sind ansprechbar und zugänglich. Kein wirkliches “Start-up” kann den Anforderungen von Filialisten zu Beginn entsprechen, deshalb sind derartige Unternehmen immer gezwungen, sich alternative Vertriebswege zu erschließen, die wiederum ihre Glaubwürdigkeit (und damit Differenz zu den durchgesetzten Pródukten) verdeutlichen).
Diese Kommunikationskonzeption setzt ein neues Verständnis voraus, indem Werbung nicht mehr als “Verlautbarung”, sondern als Gespräch verstanden wird. Bereits jetzt haben sich die Budgets in der Werbung stark verschoben: Entfielen vor dem Internet 90% der Kosten auf die Platzierung und nur 10% auf die Kreation und Realisierung der Werbung sind weite Teile des Marketings (bspw. Internet) von dem umgekehrten Investitionsverhältnis geprägt.
In diesem Sinne steht der Markenwirtschaft eine Veränderung bevor, die zu ihren Ursprüngen zurück führt. Zeit sich wieder mit der Klassikern der “Gewinnung des öffentlichen Vertrauens” zu beschäftigen.