Grundlagen der Markensoziologie – Die Marke langfristig profitabel führen.

Warum ordnen starke Marken Märkte zu Kundschaften, und zwar Jahrhunderte hindurch? Weil Marken Bündnisse sind, freiwillige Bündnisse und auch deshalb von Dauer. Was veranlasst den einzelnen Menschen, solchen Ordnungsrufen zu folgen? Weil er sich in solchen Wirtschaftskörpern seinen Wunsch nach Ungleichheit erfüllen kann. Und schließlich: Welche Bedingungen muss ein Unternehmen schaffen, um solche ungleichen Ordnungssysteme ökonomisch erfolgreich werden zu lassen? Indem es unverwechselbare Stilsysteme aufbaut. Drei Fragen, drei Antworten. Eine Einführung in die Markensoziologie.

I. Die Marke als Bündnis

Markensoziologie beschreibt die Fähigkeit, Marken als Wettbewerbswaffe profitabel und wertsichernd zu führen. Diese wertsichernde Profitabilität entsteht durch ein besonderes Verhältnis der förderlichen Zuneigung aller Menschen innerhalb des Wirtschaftskörpers einer Marke. Profit lässt sich auch kurzfristig, durch einmalige Verkaufshandlungen hervorrufen, aber Werte werden dadurch kaum gebildet. Es entsteht kein Dauergeschäft, d. h. keine kostenentlastende Wiederholung.

Eine markensoziologische Strategie sichert die Fähigkeit, langfristige Bündnisse herzustellen: Bündnisse zwischen Menschen, zwischen Menschen und Waren, zwischen Menschen und Waren und Preisen und Verkaufsarten und zahlreichen weiteren Komponenten. Die für das Tagesgeschäft zubereitete Strategie der Bündnisoptimierung machen die soziologischen Hintergründe deutlich, denn Soziologie ist die Lehre von den Bündnissen. Für den Markensoziologen ist der Markt ein Bündnisgefüge. Der Markenverantwortliche ist ein Bündnisbilder.

Ein Bündnis muss gewollt werden, sonst ist es nicht. Deshalb ist ein Bündnis immer so dauerhaft, wie der Wille der Menschen, die es wollen. Es gibt langfristige, unausweichliche Bündnisse – das Verhältnis zu unseren Eltern – und von uns selber zu steuernde und bewusst hervorgebrachte: mein Bündnis mit einem Börsenpapier. Das eine ist ein Bündnis meines ganzen Wesens, ein Bündnis, in dem ich als ganzer Mensch stehe, schicksalhaft. Das andere habe ich selber herbeigeführt, als Experte, es unterliegt meiner Entscheidung. Das eine ist Pflicht, das andere Kür. Dieser Unterschied macht die Unterscheidung zwischen dem dauerhaften Markenbündnis und dem flüchtigen Produktkontakt erkennbar.

Wir leben diesen Unterschied bereits in den Gemeinschaften unserer Heimat und den Gesellschaften unserer juristisch herbeigeführten Vereinigungen. Der Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft ist keine terminologische Finesse, er beschreibt vielmehr zwei unterschiedliche Bündnisarten. Gemeinschaften sind Kollektive, die durch Geschichte gewachsen sind, nur ganz allmählich sich wandeln und durch Sitten und Gewohnheiten die Seele jedes Menschen zutiefst prägen, von ihr Besitz ergreifen, wie wir zutreffend sagen. Unsere Sitten füttern uns, so dass wir Vor-Lieben in uns aufbauen. Eine Vorliebe ist noch stärker als eine Liebe. Vor allem ist sie dauerhafter. Der Wille der Sitte gilt und unserer eigener Wille erfüllt diesen „sozialen“ Willen gerne. Mehr noch: Der individuelle Wille wird durch den sozialen Willen angeregt und entfaltet.

So erwachsen durch den geteilten, ähnlich gerichteten Willen vieler Menschen bestimmte kulturelle Vorgänge und örtliche Rituale. Die Gewohnheiten unserer eigenen Kultur beispielsweise haben so von uns Besitz ergriffen, dass wir sie ununterbrochen ausstrahlen. Daher werden wir immer wenn wir in anderen Gewohnheiten bzw. Kulturen auftauchen, ob als Tourist oder Geschäftsreisender, sogleich als Ungleicher erkannt: An unserer Kleidung, unserem Auftreten, unserer Sprache und und und. Was für den Menschen gilt, gilt auch für die Dinge, die er produziert: Zu den unverzichtbaren Komponenten unserer bunten Waren-Kultur gehören die starken Marken. Globale Ikonen wie IKEA, Coca-Cola, Rolex, Mercedes, Armani sind immer auch Botschafter ihrer Heimatkulturen.

Der Gegensatz zu einem gesellschaftlichen Bündnis wird nun deutlich. Ich stelle es selber her, ich bin der Initiator, mein Wille entscheidet. Gesellschaften gehen auf Gründer zurück, sie sind zweckhafte Sozialkreationen, sie sind die ausorganisierten Einfälle unternehmerischer Einzelner. Das gesellschaftliche Kollektiv wird durch Gesetze geregelt. Ganz im Unterschied zur geschichtsgetränkten Sitte, die durch Überlieferung und Tradition weiterbesteht, gilt für die Gesellschaften das Recht als Steuerungsinstrument. Deshalb sprechen wir auch vom Gesellschaftsrecht bei Firmen. Eine Aktien-Gemeinschaft ist unvorstellbar.

Die Haltungen der Menschen innerhalb dieser beiden Kollektive zu Menschen und Dingen ist äußerst gegensätzlich. Während in einer Gemeinschaft alle individuell Getrennten letztlich verbunden sind, bleiben die nur rechtlich Verbundenen einer Gesellschaft letztlich eher getrennt. Vertragsverhältnisse kann man kündigen, Blutsbande jedoch nicht. Deshalb leben Gemeinschaften vor allem durch ihre geteilte Vergangenheit, Gesellschaften jedoch von ihrer Zukunft. In dem einen Bündniszusammenhang sind wir der Bauer, im anderen der Schmied. Der Bauer lebt im Gegebenen, wartet im Sich-Wiederholenden, führt es rückkoppelnd fort. Der Schmied dagegen schmiedet das Neue, gemäß seinem Genius, ein Ingenieur.

Beide Bündnisformen regeln auch unseren Umgang mit der Ware: als Marke und Produkt. Zum Produkt haben wir ein gesellschaftliches Verhältnis. Wir sind die hellwach Prüfenden, wir sind urteilende homines oeconomici, testen bei jeder Nutzung Qualität, Service und Preis. Wir sind das Subjekt, der Souverän, der Entscheider. Bei der Marke ist es genau entgegengesetzt. Sie ist Kraft einer Wertschöpfungsgemeinschaft. Über Jahre hindurch hat sich gute Erfahrung mit allen Lebensäußerungen des Unternehmens in einer Kundschaft kumuliert. Die Prüfnervosität des Käufers hat sich gelegt, öffentliches Vertrauen hat sich gebildet, die Marke ist Subjekt geworden, wir das Objekt.

Eine Neigungsbereitschaft zu einer Marke hat uns erfasst, wir haben ein positives Vorurteil der Firma gegenüber entwickelt. Die bewusste Unnachdenklichkeit gegenüber der Leistung hat sich in uns breit gemacht – Markenkraft ist entstanden.

II. Die Ungleichheit als Grundlage

Lebendiges ist immer einmalig – und daher ungleich. Es gibt keine zwei identischen Blätter an einer Eiche, nicht zwei gleiche Katzen, keine zwei identischen Stimmen, keine zwei identischen Wolken. Die kompositorische Kraft des Universums realisiert sich in immer einmaliger Gestalt.

Der Wirtschaftskörper einer Wertschöpfungs-Gemeinschaft, der Wirtschaftskörper einer Marke ist in eben diesem Sinne das Ergebnis eines solchen Willens zur eigenen Komposition. Der Wille zur eigenen Komposition führt zu immer mehr Ungleichheit. Deshalb gibt es zwar überall die Gewohnheit zu schlafen, zu essen, sich zu schminken und die Freizeit zu verbringen, die Kinder zu erziehen und die Toten zu ehren. Aber sie unterscheiden sich alle: Sie sind immer von ganz anderer Gestalt. Ein katholischer Gottesdienst ist nicht der eines Moslems, der Stephansdom ist nicht der Hamburger Michel, die Chansons der Juliette Greco nicht die Songs von Coldplay.

So ist Ferrari nicht TESLA und die Wranglers keine Levi’s. Die Marken regeln Details immer irgendwie so, dass man sie sogleich als von dort und nicht von hier, also so geartet und eben nicht austauschbar erkennt. Gewohnheiten lenken die Menschen, aber jede einzelne ist anders gestaltet. Die Freude an der Ungleichheit wird zum Willen zur Ungleichheit. Am Gestalthaften erkennen sich die Menschen als ähnlich und als fremd, als Freunde oder Feinde. Und also betonen sie ihre Ungleichheit. Jeder hat das Recht zur Ungleichheit. Hier zeigt sich das Dramatischste an jedem Bündnis – seine gestalthafte Individualität. Die Muster binden uns zusammen und grenzen uns ab. Alles ist ungleich. Und eben diese Gegensätze sind das Leben. So gleich die Funktionen der Sitten sind – so ungleich ist ihre jeweilige Gestalt.

Dieser Wille zur Ungleichheit ist für den Markenführer der wichtigste Sachverhalt überhaupt. Das Produkt in seiner mengenartigen Austauschbarkeit veranschaulicht die Gleichheit, denn jedes Produkt einer Serie gleicht dem anderen und auch untereinander gleichen sie sich an. Es ist die Funktionalität, die die Produkte auswechselbar macht. Der Wert, der die geringste Windschlüpfrigkeit garantiert würde es erzwingen, dass alle Autos gleich aussehen. Allein die Marke als Gestalt muss mit Erfindungskunst und Einfallsreichtum alles das herausarbeiten, was zur Besonderheit taugt und es zur eigenen Gestalt bündeln. Die Unverwechselbarkeit im Detail wird dann zum einmaligen Gewohnheitsraum, der Bündnisraum Marke zur besonderen Komposition.

Der Wunsch der Menschen nach Ungleichheit ist der anthropologische Motor, der die Suche nach der Markenleistung im Markt antreibt. Der Wille zur eigenen Gestalt der Marke muss daher den Markenverantwortlichen im Tagesgeschäft lenken. Während die erste Regelung sein muss: Schaffe Markenräume als Gewohnheitsräume, präzisiert der zweite Aspekt: Schaffe sie als individuelle Gestalträume: Wie aber sollen sie ausgestaltet werden? Wie wird ihre Ordnungskraft erhalten?

III. (Marken-) Führung durch Stilbewusstsein

Das wichtige Führungsmittel im Markt ist es, unterschiedliche Stilsysteme herauszubilden. Führung durch Stil heißt: Führung durch Details. Wenn der Polizeipräsident von New York seine Stadt wieder sicherer gemacht hat, so hat er das durch stilistische Strenge erreicht. Wer seine Bierdose wegwirft, wird bestraft, wer zu schnell fährt, aus seinem Auto gezerrt und wie ein Schwerverbrecher behandelt.

Das Prinzip der Führung durch Stil lautet: Null Toleranz bei Gestaltfragen. Die Römer nannten das : principia obstate – Wehret den Anfängen! Die amerikanischen Kommunalpolitiker nennen es „the theory of broken windows“. Lass nicht die geringste Beschädigung zu, denn wenn du in einer Straße eine zerbrochene Scheibe erlaubst, sind es in der nächsten Woche schon zwei, dann fünf und ein halbes Jahr danach kannst du nicht mehr heil durch den Stadtteil gehen. Das Prinzip, welches hier angewandt wird, ist ein typisch markensoziologisches: Achte auf deine Gestaltdichte! Halte deine Gestalt diszipliniert, dann wirst du Anhänglichkeit schaffen. Government by style ist Gestalt-Engineering.

So wie Baustile uns fesseln oder ein Musikstil uns lange Jahre oder über Generationen bindet, so auch der Stil einer Marke. Ein weitverbreiteter Irrtum besteht darin, zu meinen, die Menschen ließen sich durch Argumente beeindrucken oder gar auf Dauer führen. Diese Illusion aufklärerischer Rationalität zeigt sich auch in der Markenbindung. Argumente sind wichtig, aber auf Dauer nicht tragfähig. Wir suchen ein Bett und ein Hotel – sicher. Aber dann fängt es an: welches Hotel? Wir brauchen ein Auto und jedes hat gute Argumente für sich. Aber eben deshalb ist die Beziehung flüchtig – sie hält so lange, bis ein besseres Argument auftaucht. Treue entsteht so nicht.

Ein anderer Sachverhalt ist der eigentlich steuernde: die Gestalt. Damit ist nicht Design gemeint, sondern Stimmigkeit. Stimmigkeit der Erfahrung. Der Mensch ist ununterbrochen tätig, Gestalturteile über Stimmigkeiten hervorzubringen. Das passt zusammen, dies nicht, dies war früher aufeinander abgestimmt, ist jetzt auseinandergerissen. Mergers&Acquisitions liefert ständig Beispiele solcher Un-Stimmigkeiten. Diese Urteilskraft ist nicht argumentativ. Sie ist aber auch nicht das, was irrtümlich immer als emotional bezeichnet wird. Ein Gestalturteil ist zwar in der Regel rasch gefällt, aber immer ist der Geist des Urteilenden unaufhebbar beteiligt. Stil ist Magnetismus der Gestalt. Niemand sieht ihn und doch ordnet er alles.

Führen durch Stil ist wichtig im Überlebenskampf. So wie sich die Einzelelemente der verschiedenen Gestalten, der Kundschaften am Stil erkennen, und sei es nur am Tonfall einer Stimme oder an der Art, eine Naht zu nähen, so entscheidet auch im Kampf um die Gestaltsicherung vor allem der Stil. In Bezug auf eine Leistung stilvoll zu handeln heißt daher: auf alle Details achten und diese so verwirklichen, dass die gewollte Besonderheit stimmig realisiert wird. Stilkontrolle ist daher das allerwichtigste. Ein Vorstandsvorsitzender kann sich nicht um die einzelnen Arbeitsvorgänge im Unternehmen kümmern. Seine Arbeit besteht darin, die stilistische Oberfläche der Marke gestaltdicht zu halten. Der Markenverantwortliche ist daher ein Sozialstilist.

Durch die Wiederholungen der Details zeigt die Sitte ihre Kraft. Sitten sind Stilkompositionen aus Hunderten von Einzelvorgängen – Bewegungen, Klängen, Gerüchen. Gemeinschaften werden energetisch immer wieder aufgeladen durch die Details eines Brauchs: die Gesten des Priesters, das Kleid der Braut, die Musik der Band und der Duft der Speisen – alles unverwechselbar und hunderttausendfach wiederholt – dann stimmt die Welt und wir fühlen uns wohl, es ist gewohnt, die Gewohnheit als Wohnzimmer der Seele. Es ist nun völlig klar: Hier hinein gehören die Marken

Zwei grundlegende Prinzipien zur Gestaltführung

Erstens muss die Markengestalt selber ihre Gestaltstrenge beibehalten. Wenn auf ihrer Außenhaut alle Details so stimmig zueinander gehalten worden sind, dass im Publikum immer wieder der Eindruck von einem “Ding” entsteht – einem zusammenhängenden, nicht einem zusammengesetzten. Stilstrenge kostet nicht viel Geld, aber viel Aufmerksamkeit und Sinn für Details. Denn je strenger hier die Gestalt geführt wird, desto mehr ermöglicht sie es, Eigenbewusstsein zu erzeugen. Bewusstsein der eigenen Gestaltbesonderheit. Das aber verursacht Stolz. Und wenn erst einmal Stolz in der Kundschaft entfacht ist, beginnt die Markentreue.

Und zweitens: Der Stil muss leistungsernst sein, um dauerhaft zu wirken. Nur dann löst er Eigenenergie im umliegenden Menschenfeld aus. Nur dann zündet er im Publikum den Willen, diese Stilstrenge selbsttätig weiterzuverbreiten.

Das geschieht im Markt durch Qualität. Qualität im weitesten Sinne, Ernsthaftigkeit des hergestellten Gutes und der Art seines Verkaufs: Leistungsernst. Leistungsernst ist die Durchsichtigkeit aller kaufmännischen Vorgänge – im Produkt ebenso wie im Vertrieb, im Konditionensystem ebenso wie in der Preispolitik. Der Leistungsernst ist die Grundlage für das Begründbare im öffentlichen Vertrauen, welches einen Markenkörper charakterisiert. Der reine Nutzen ist treulos. Erst als Stil produziert Nutzen Anhänglichkeit.

Damit hat der Kaufmann auch den dritten Teil seines Werkes in der Hand: nach dem Aufbau eines Markenkörpers und dessen individueller Herausstellung folgt die Sicherung dieses Systems durch hartnäckige Stilstrenge im Tagesgeschäft. Marke ist stilistisch organisierter Leistungsernst. 

Cover des Buches "Grundlagen der Markensoziologie. Die sozialen Prinzipien von Markenbildung und -führung in Theorie und Praxis.
Das Standardwerk: Grundlagen der Markensoziologie. Springer Gabler 2018. Von Alexander Deichsel, Oliver Errichiello und Arnd Zschiesche. Dieser Text ist dem Buch entnommen.

Hintergrund-Info: Markensoziologie

Weitere Artikel zur wissenschaftlichen Markenführung und zur Markensoziologie finden sie auf dem “Markenradar” unter dem entsprechenden Stichwort, z.B. “Grundlage jeder Marke ist auch 2020 ihre Leistung”. Mehr zu Professor Dr. Alexander Deichsel, dem Begründer der Markensoziologie finden Sie hier.

Alexander Deichsel unterrichtet an der Universität Hamburg (2019).

Mehr Informationen zu Professor Dr. Oliver Errichiello und Dr. Arnd Zschiesche.

Ferdinand Tönnies, der Haubarg und die Marke: Die IG Baupflege Nordfriesland und Dithmarschen im Interview mit dem Markensoziologen Dr. Arnd Zschiesche (Teil 2)

 
Haubarg bei Tating, Baujahr 1818.
Die Markensoziologie rekurriert stark auf Ferdinand Tönnies, einen Sohn dieser Gegend. Geboren auf einem Haubarg in Oldenswort auf der Halbinsel Eiderstedt. Tönnies gilt als Begründer der Soziologie in Deutschland, wo genau liegt da die Verbindung zur Markenführung? Als Markenexperte ist Tönnies bisher jedenfalls nicht bekannt.

Tönnies kam im leider später abgebrannten Haubarg „Op de Riep“ bei Oldenswort auf der Halbinsel Eiderstedt zur Welt. Und: Ja, Herr Tönnies wird manchmal in seiner Wirkung unterschätzt! Leider. Dabei hat er eine Grundlagenarbeit für die Soziologie geleistet, die einmalig ist. Die Erkenntnisse seiner umfassenden Arbeiten sind seit über 100 Jahren brandaktuell, sie lassen sich auf alle gesellschaftlichen Bereiche produktiv und praxisnah anwenden. Für Tönnies gilt in besonderem Maße der Spruch: Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie! Er legte mit seinem Wirken nicht nur den Grundstein der Soziologie in Deutschland, er gehört auch auf internationaler Ebene zu den Mitbegründern der Soziologie. Sein berühmtestes Werk heißt „Gemeinschaft und Gesellschaft“, erstmals publiziert 1887. Hier erklärt er, wie sich Gemeinschaft bildet und wie sich – in Abgrenzung dazu – Gesellschaft entwickelt.

Die brutale Kurzform der Erkenntnis für das Thema Marke lautet: Starke Marken bilden immer Gemeinschaften. Nicht umsonst spricht man von Apple-Jüngern, aktuell versuchen viele Marken neudeutsch „Communities“ mit ihrer Kundschaft zu bilden, manche möchten sogar zu „Love Brands“ werden. Nike-Mitarbeiter tätowieren sich einen „Nike-Swoosh“ auf die Haut um ihre tiefgehende Verbindung zur Marke zu zeigen. Extreme Beispiele, aber sie verdeutlichen das Prinzip: Wer Marke verstanden hat, der weiß, dass er gemeinschaftliche Strukturen aufbauen muss, wenn er langfristig Menschen binden will. Wer Tönnies verstanden hat, der weiß wie man gezielt Gemeinschaften aufbauen kann – wissenschaftlich fundiert. Wer Tönnies verstanden hat, der erkennt, dass jede Marke ein soziales Phänomen ist, dass wirtschaftliche Auswirkungen hat – umgekehrt funktioniert es nicht. Aus diesem Grund gibt es so viele Probleme in der aktuellen Wirtschaftswelt: Betriebswirtschaftlich geprägte Manager verstehen oftmals nicht, dass sie mit der Marke ein zutiefst soziales Phänomen managen müssen, um gute Zahlen zu erreichen. Zu Zeiten von Tönnies gab es diese harte Trennung von Sozialwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften nicht so stark wie heute. Ein großer Fehler im System. 

Tönnies verstand sich als Sozioökonom, er hat genau diese Zusammenhänge verstanden und sie fundiert herausgearbeitet. Meine persönliche Überzeugung ist, dass sein Aufwachsen in einem Haubarg, im ländlichem Gebiet, auf engem Raum mit starker „sozialer“ Nähe zu Mensch und Tier, für sein tiefes Verständnis von Gemeinschaft ursächlich ist.

Haubarg “Op de Riep”, Geburtshaus von Ferdinand Tönnies. Bild von 1900.
Könnten Sie bitte noch einmal erklären, was genau eine Marke ist? Es gibt gefühlt tausend Definitionen von Marke, wann kann man von einer „richtigen“ Marke sprechen?

Es gibt gefühlt tatsächlich Millionen von Definitionen, Ansätzen, Markenmodellen. Jeder Wirtschaftsprofessor hat gefühlt sein eigenes Modell – googeln sie dazu mal den Begriff Markenmodell. Die Markensoziologie beschreibt dagegen kein Modell, sondern analysiert die einzigartige Historie und Realität einer Marke, um ihre ebenfalls einzigartigen Erfolgsfaktoren herauszuarbeiten. Keine Marke der Welt kann über ein Modell hinreichend beschrieben werden. Kurz erklärt: Eine Marke ist ein positives Vorurteil in den Köpfen der Menschen. Selbst größte Globalmarken existieren nur als ein positives Vorurteil in den meisten Köpfen. Genau dies werde ich in meinem Vortrag ausführlicher erklären, um das Grundverständnis von Marke zu schärfen.

Zurück zur IG Baupflege: Wir leben in einer Zeit, wo sich unsere Kulturlandschaft gerade auch hier an der Westküste teilweise durch die erneuerbaren Energien, wie Windkraft, Solarfelder, gigantische Stromtrassen verändert. Hat das historische Bauerbe in dem Wahrnehmungswinkel, gerade der jetzt heranwachsenden Generation eine Chance? Und wie können wir deren Blick dafür schärfen?

Ich würde es genau umgekehrt betrachten wollen: Gerade weil sich unsere Umgebung durch Technologie verändert, wird das historische Bauerbe in seiner Relevanz für zukünftige Generationen weiter ansteigen. In der Markensoziologie heißt es salopp formuliert: Je mehr Globalisierung, Innovation und Digitalisierung, umso wichtiger die Herkunft, der individuelle Ort mit seinen Besonderheiten! Natürlich ist es wichtig, dieses Bewusstsein immer wieder neu zu schärfen, wie wir Anfang des Jahres wieder an der umfassenden Berichterstattung zur Befreiung von Auschwitz gesehen haben.

Meine Überzeugung ist es, dass bisher noch jede Generation ein Bewusstsein dafür entwickelt hat, dass die Vorgeschichte mehr ist als nur ein Faszinosum oder Kuriosum. Dass alles, was im Mai 2020 passiert, alles was wir sind, auf den Schultern und in den Köpfen anderer Generationen erdacht und umgesetzt wurde. Warum finden die Menschen denn einen Haubarg, Pfahlbauten im Sand, ein Schloss Neuschwanstein oder einen Eiffelturm so faszinierend? Warum laufen denn jeden Tag Geschichtsdokus im Fernsehen?

Zumindest jeder denkende Mensch sollte irgendwann in seinem Leben bemerken, dass nicht er oder sie der Mittelpunkt der Erde ist, sondern dass es bereits vor uns viele kluge Menschen gegeben hat. Kluge Menschen, die sich zum Beispiel auch beim Bau ihrer Häuser viele Gedanken gemacht haben. Kluge Menschen, die sich selbst und ihre Zeit in diesen Bauten materialisieren und so be-greifbar werden. Jede Marke, auch jede Kultur-Marke der Welt lebt von ihrer Geschichte: Ihre Attraktivität leitet sich in hohem Maße aus ihrer einmalig-individuellen Geschichte ab!

Zum Hintergrund des Gespräches: das 40jährige Jubiläum der IG Baupflege Nordfriesland und Dithmarschen

Den ersten Teil dieses Gesprächs können Sie in dem Markenradar-Blogbeitrag vom 20.04.2020 nachlesen oder in der Publikation der IG Baupflege “Der Maueranker”  39. Jahrgang März 2020. Direkt zu beziehen über die Interessengemeinschaft (IG) Baupflege Nordfriesland & Dithmarschen. Kontakt unter www.igbaupflege.de . 

Dort erfahren Sie zeitnah auch den neuen Termin für die Jubiläumsfeier “40 Jahre IGB” im Rittersaal des Schloss vor Husum, die ursprünglich am 30.04.2020 stattfinden sollte. Der Geschäftsführer des Büro für Markenentwicklung, Dr. Arnd Zschiesche hält auf dieser nicht öffentlichen Veranstaltung die Keynote: “40 Jahre Baupflege bedeutet 40 Jahre Markenpflege”.

Markensoziologe Arnd Zschiesche bei einem Vortrag im November 2019.

Mehr Vertiefung und Grundsätzliches zum Thema Marke: 

Marke statt Meinung. Die Gesetze der Markenführung in 50 Antworten. GABAL. 

Literatur zur nordfriesischen Baupflege und Baukultur finden Sie unter diesem Link auf der Website der IG Baupflege.

X. Internationales Tönnies Symposium in Kiel: Ferdinand Tönnies als Wirtschaftsberater

Das X. Internationale Tönnies Symposium fand vom 5. bis 7. September 2019 an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel statt. In den Sälen des Audimax der Hochschule richtete die Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft die Veranstaltung aus. Ein besonderer Anlass war durch das Erscheinen von “Gemeinschaft und Gesellschaft” – dem berühmten Hauptwerk des Begründers der Soziologie in Deutschland – als Band 2 der Tönnies-Gesamtausgabe gegeben. Unter dem Titel der öffentlichen Veranstaltung “Gemeinschaft und Gesellschaft: Gemeinwohl und Eigeninteresse heute” ging es den teilnehmenden Wissenschaftlern darum, dem Denken des Gelehrten aus Oldenswort vor dem Hintergrund aktueller sozialer Herausforderungen und Krisen nachzuspüren. Außerdem wurde der inhaltlich-thematische Reichtum des Klassikers im Kontext der Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts beleuchtet. Die internationalen Tönnies-Experten sprachen zu diversen Aspekten seines Werks, das dreitägige Programm kann hier nachgelesen werden.

Tönnies Lehre ist so bunt wie aktuell.
Ferdinand Tönnies als Wirtschaftsberater

Unter der Überschrift “Ferdinand Tönnies als Wirtschaftsberater” fand am 7. September im Hörsaal H des Audimax ein mehrstündiges Panel statt, bei dem das Büro für Markenentwicklung mit drei Referenten am Start war: Professor Alexander Deichsel, in Doppelfunktion als Präsident der Ferdinand Tönnies Gesellschaft und Wissenschaftlicher Associate des Büro für Markenentwicklung, Professor Dr. Oliver Errichiello und Dr. Arnd Zschiesche als Geschäftsführer des Büro für Markenentwicklung in Hamburg. Die Themenbreite des Panels zeigt das Spektrum des Begründers der deutschen Soziologie allein im Bereich Wirtschaft: 

  • Prof. Dr. Oliver Errichiello: Einsamkeit als Bündniskraft: Die gemeinschaftliche Funktion der Marke in einer haltlosen Welt

  • Prof. Dr. Hartmut Hecht: Tönnies’ Leibniz Lektüre

  • Dr. Arnd Zschiesche: Die Soziologie ins Leben stellen: Tönnies als Sozioökonom und Markenversteher

  • Dr. Axel Schroeder: Markenbildung im Kapitalmarkt

  • Dr. Martin Busch: Selbstähnlichkeit in der Nachrichtenflut – Markentechnische Bemerkungen zur Ordnung im vermeintlichen Chaos

  • Dr. Rainer Waßner: „Keine Feier ohne Meyer!“ Aufstieg und Fall eines Berliner Marktgiganten

  • Prof. Dr. Alexander Deichsel: Marke verkauft Moral zu ethischen Bedingungen

Leibniz und Tönnies im “Austausch”

Es kam zu ausgiebigen Diskussionen, weit über das Thema Wirtschaft hinaus. So z.B. in Bezug auf das wissenschaftliche Verhältnis von Gottfried Wilhelm Leibniz und Tönnies, welches Hartmut Hecht anhand eines Briefes von Leibniz an Thomas Hobbes aus dem Jahre 1670 darstellt.  Einen Brief, welchen Ferdinand Tönnies 200 Jahre später in der British Library entdeckt, kommentiert und 1887 mit seinen Kommentaren publiziert. Hecht leitet aus Tönnies Text-Anmerkungen die These ab, dass sich trotz des zeitlichen Abstands, die Begründung von zwei unterschiedlichen empirischer Disziplinen wie der Physik und der Soziologie nicht nur gleicht, sondern auf einem gemeinsamen geistigen Ursprung beruht.

Die Marke als soziales phänomen erkennen

Aber gemäß dem Oberthema wurde auch die Rolle der Marke als Wirtschaftsfaktor im zunehmend digitalisierten 21. Jahrhundert  intensiv beleuchtet und diskutiert. Nicht zuletzt die plakative Tatsache, dass medial oft von Apple-Jüngern gesprochen wird, viele Marken mit umfassenden Mitteln versuchen sog. “Brand Communities” zu installieren, zeigt wie zeitlos die Erkenntnisse von Tönnies über die starken (wesenwilligen) Anziehungskräfte von Systemen sind: Die Marke wird deutlich, als ein primär soziales Phänomen, welches betriebswirtschaftliche Auswirkungen hat. Wer sie als Verantwortlicher nicht als soziales Phänomen begreift, der kann eine Marken-Gestalt nicht wert-bewusst und somit nicht verantwortungs-bewusst führen. Es gilt: Je stärker der gemeinschaftliche Grad einer Marke, je dichter ihr positives Vorurteil in der Kundschaft (und Öffentlichkeit), umso höher ihre soziale Attraktivität im Markt.  

Professor Alexander Deichsel und Professor Oliver Errichiello bei der Begrüßung im Hörsaal H.
Dr. Hartmut Hecht im Gespräch mit Alexander Deichsel.
Dr. Arnd Zschiesche referiert über Tönnies und seinen Beitrag zur Markenanalytik.
Dr. Martin Busch, Redakteur bei Radio Bremen, spricht über die Herausforderung Selbstähnlichkeit in den täglichen Nachrichten-Strom zu bringen.

 

Das positive Vorurteil über Deutschland

  • Nur dumme Menschen haben Vorurteile. 
  • Vorurteile sind brandgefährlich. 
  • Vorurteile muss man Ausrotten.

Diese drei Gemeinplätze zum Vorurteil würden viele Menschen spontan unterschreiben. Das ist – wenn es denn wirklich spontan geschieht – verständlich: Das Vorurteil hat in der Menschheitsgeschichte für ungeheure Unmenschlichkeiten gesorgt. Viele der verwackelten Filmfetzen, die uns tagesaktuell heimsuchen, obwohl wir uns gerade auf dem Sofa mit einer veganen Fairtrade-Limonade die Welt korrekt trinken wollten, belegen, dass das Böse da draußen weiter seine unheilvollen Bahnen zieht. Derartiges Geschehen lässt sich leider häufig auf existierende Vorurteile und daraus resultierenden Hass zurückführen. Vorurteile sind in dem Verständnis nur etwas für kahlrasierte Schädel alter deutscher Prägung oder langbärtige Extremisten jüngerer Prägung… Folgerichtig verachten gerade gebildete Menschen das Vorurteil an sich, manche unternehmen große Anstrengungen um sich frei davon zu machen. Gut gemeint aber zu kurz gedacht. 

Denn all diese Tatsachen dürfen nicht den Blick dafür verstellen, dass ein Vorurteil nicht automatisch ein negatives ist. Die Folgen negativer Vorurteile sind nur deutlich augenfälliger als die Folgen positiver Vorurteile. Und tatsächlich existiert in der öffentlichen Debatte die positive Variante nicht. Im Allgemeingebrauch und in der Forschung wird es primär und nahezu ausschließlich in seinen negativen Aspekten untersucht (Autor ausgenommen). Hier soll die Schlagkraft von Vorurteilen am Beispiel des positiven Vorurteils über Deutschland dargestellt werden.

Vorurteile vorurteilsfrei betrachten

Ein interessanter Hinweis ist, dass es bis in die 1930er Jahre vollkommen selbstverständlich war, dass es nicht allein negative, sondern genauso positive Vorurteile gibt. Dabei gilt vieles, was für das negative Vorurteil gilt, für das positive Vorurteil gleichermaßen: Seine Langlebigkeit gegenüber Fakten und gut gemeinten Nachbarschaftsfesten – allen Dingen, die eine andere Wahrheit zulassen. Oder wie es Albert Einstein auf den Punkt brachte: „Ein Vorurteil ist schwerer zu spalten als ein Atom.“                                                                                   

Bei näherem Hinsehen wird umgehend deutlich, dass ein vorurteilsfreies Leben weder erstrebenswert noch praktikabel wäre. Gerade in unserer hochdifferenzierten Gesellschaft, die es keinem noch so intelligenten Einzelwesen ermöglicht, Experte auf allen Gebieten zu sein. Im 21. Jahrhundert benötigen wir Urteile ohne vorhergehende Prüfung um handlungsfähig zu bleiben. Jeden Tag sind wir abhängig von abertausend abgespeicherten Vorurteilen in unserem Kopf.

Ein simpler Supermarkteinkauf ohne Vorurteile? Wir würden vorm Kühlregal wahlweise erfrieren oder verhungern, wenn wir nicht ein paar Vorurteile über Landliebe, Milram oder Danone im Kopf hätten – und uns relativ sicher wären, dass diese Firmen kein Formaldehyd in Becher füllen. Eine Bank in Aserbaidschan bietet 3,8 % Zinsen an, eine Schweizer Bank 0,9 %: Wo eröffnen Sie Ihr Konto? Würden Sie in Paris genauso einen Zebrastreifen überqueren wie in Oslo? Bitte nicht… Naiv-dumme Hirngespinste, ja rassistische Voraus-Urteile ohne jedes Fundament? Oder ein pragmatisch-effizientes Vorgehen um den Alltag zu meistern (in Paris lebensrettend)? 

Leistungen als Grundlage des positiven Vorurteils

Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Varianten: Das positive Vorurteil basiert ursächlich auf Leistungen und Fakten. Ein Beispiel:  Wenn wir zufällig ausgewählte Personen bitten, spontan Assoziationen zu nennen, die ihnen zum Begriff „Volvo“ einfallen, ist erfahrungsgemäß eine der meistgehörten „Sicherheit“. Selbst wenn keine einzige der Personen Mechaniker oder Ingenieur ist, niemand der Befragten selbst Volvo fährt, noch sich überhaupt für Autos interessiert. Was für eine Leistung des schwedischen Herstellers. Apropos: „Schweden“ landet meist auf dem zweiten Platz. Das Spannende: Wenn man die Historie des Autobauers liest, ist auffällig, wie viele Beiträge zur automobilen Sicherheit seit Gründung 1927 in Göteborg erdacht wurden. Unter anderem der erste serienmäßige Dreipunkt-Sicherheitsgurt 1959 oder das erste Gurtkissen für Kinder 1976. Apropos: der Begriff „Familie“ landet oft auf dem dritten Rang. 

Wirtschaft als Kampf um das stärkste positive Vorurteil

Das Beispiel ermöglicht eine Perspektive auf die vernetzte Weltwirtschaft, die verdeutlicht, was es für ein Unternehmen und sein Herkunftsland bedeutet, ein starkes Vorurteil verankert zu haben. Hier: Autos aus Schweden sind sicher (auch die chinesischen Eigner haben dies gut verstanden). Es entsteht eine Wechselwirkung, die wirtschaftlich betrachtet nur Gewinner kennt, Land und Firma steigern ihre Attraktivität. Um noch kurz vor Ort zu bleiben, sei hinzugefügt, dass die Marke IKEA wohl mehr zur massenhaften Verbreitung und Beliebtheit der schwedischen Kultur beigetragen hat, als jedes Svenska-Kulturinstitut in Peking oder Washington. 

Volvo, BMW, Harley: Wirtschaft bedeutet den Kampf um das stärkste positive Vorurteil im Markt, die Herkunft kann ein „Booster“ dabei sein. Ein Land, welches über eines der stärksten positiven Vorurteile im Bereich Industrie und Technik weltweit verfügt(e), ist seit der Industrialisierung Deutschland. Das globale Gütesiegel „Made in Germany“ ist vielfach beschrieben wie gefeiert worden, es wird traditionell als Exzellenz-Beweis eingesetzt. Wer einmal in einem Tokioter Kaufhaus beobachtet hat, wie sorgfältig deutsche Fähnchen oder „Made in Germany“-Schilder neben Töpfe, Messer, Staubsauger drapiert werden, der ahnt, was für einen Wert dieses Vor-Vertrauen besitzt. 

Leistungen der Deutschen Industrie im 19. Jahrhundert als Fundament

Ein derartiges positives Vorurteil ist mit viel Dampf und wenig heißer Luft entstanden – sein Aufbau lässt sich nachvollziehen. Ein Blick in die Gründungsphase heimischer Industrie-Ikonen macht es deutlich: Ab 1837 lieferte die Firma Borsig Dampfmaschinen aus. Ab 1841 begann mit der ersten Lokomotive eine Erfolgshistorie, die dafür sorgte, dass der Name zum Synonym für Lokomotivbau wurde. Konkurrenz gab es ab 1858 von Henschel aus Kassel. Siemens & Halske gründeten sich 1847, Bayer und Hoechst 1863, BASF 1865, Hoesch und Thyssen 1871, AEG 1883, Bosch 1886. In dem Jahr entwickelten Carl Benz und Gottlieb Daimler unabhängig voneinander die ersten Automobile der Welt.

Erste Borsig-Dampflokomotive, Zeichnung datiert 1840. Quelle: Wikipedia Borsig (Unternehmen)

Aus der Besonderheit dieses kulturellen Hintergrundes, mit bahnbrechenden Erfindungen und Errungenschaften, dem elektrodynamischen Prinzip (1866), der ersten elektrischen Lokomotive (1879), zahlreichen Nobelpreisen in Chemie, Physik und Medizin, wurde ein einzigartiges kollektives Energiefeld aufgebaut: Ein positives Vorurteil, welches alle Produkte aus Deutschland mit einem kostenlosen Schub Vorvertrauen und Faszination ausstattet, ein unbezahlbarer Mehrwert.

Die „Marke“ Deutschland baut sich ab – von innen

Was bedeutet es vor diesem Hintergrund, wenn der VW-Konzern seinen Kunden eine Betrugssoftware ins Auto einbaut? Was bedeutet es, wenn eine Bank, die das „Deutsche“ im Namen trägt, ihre Kunden und nahezu alle, die mit ihr zu tun haben, hinters Licht führt? Welche Folgen ergeben sich, wenn die Eröffnung bzw. Nicht-Eröffnung eines Hauptstadt-Flughafens wegen technischer Probleme zur weltweiten Lachnummer verkommt? 

Von Marietta Slomka bis zu den üblichen Talkrunden wird mit Experten über die monetären Schäden solcher Vorfälle debattiert, um das Versagen zumindest in Zahlen fassen zu können. Leider geht es dabei meist nicht um das Entscheidende: Den sozial-realen Super-GAU, der sich in Zahlen längst nicht mehr darstellen lässt. Den sozioökonomischen Raubbau am positiven Vorurteil über Leistungen aus Deutschland. Den Leistungsträgern aus Management und Consulting, die meist die Überzeugung in sich tragen, dass sie komplexe wirtschaftlich-politische Gesamtzusammenhänge verstehen, scheint dieser einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhang nicht klar zu sein. Oder es fehlt an managerialer Demut, ein System zu schützen, dass größer ist als jede Einzelperson und jedes Einzelunternehmen für sich.

Das positive Vorurteil über Deutschland als “Dachmarke” der Wirtschaft

Es ist sicher kein Zufall, dass viele der Vorfälle in Konzernen passieren, nicht in mittelständischen Unternehmen. Denn dort sind Gründer oder Geschäftsführer deutlich direkter ins Geschehen – und in die konkreten Folgen ihrer Handlungen – involviert. Die Mehrheit dieser „anständigen“ Firmen wird unschuldig in Mitleidenschaft und Mit-Haftung gezogen. Die Zerstörung des positiven Vorurteils als „Dach“ der deutschen Wirtschaft zieht den spezialisierten Hidden-Champion auf der Schwäbischen Alb genauso mit runter wie Start-Ups, die in ihren Auslandsbeziehungen vom Vorurteil profitiert haben. Denn neue Märkte waren ihnen gegenüber eher aufgeschlossen, investierten Vor-Vertrauen. 

Es geht um den massiven Vertrauensverlust einer exportabhängigen Volkswirtschaft, die ihren „Dauer-Elchtest“ erlebt. Ob an der Börse oder im Direktgeschäft: Die schnellste soziale Geschwindigkeit ist und bleibt das Vertrauen. Je mehr Globalisierung, je mehr Konkurrenz, umso wichtiger wird die Herkunft als ein maximal effizienter Vorurteils- und Vertrauensträger über alle Kanäle hinweg.

Selbst wenn starke Vorurteile nicht über Nacht verschwinden, so arbeiten einige berühmte Marken intensiv daran, sich selbst tragende Säulen nachhaltig zu zertrümmern. Säulen, die Unternehmen wie VW oder Deutsche Bank zudem eigenhändig mitaufgebaut haben. Säulen von denen sie jahrzehntelang profitierten, weil Menschen weltweit ihren Produkten und Dienstleistungen einen Mehrwert unterstellt haben: Viele Kunden bereit waren, genau dafür mehr Geld zu investieren. Die Bank trägt das positive Vorurteil sogar im Namen… Es beweist sich eine soziologische Binsenweisheit: Wirtschaftskörper werden immer von innen zerstört, niemals von außen. 


Der Autor: Der Markensoziologe Dr. Arnd Zschiesche beschäftigt sich seit zwanzig Jahren mit dem positiven Vorurteil als Wirtschaftsfaktor. Er forschte speziell über das positive Vorurteil über Deutschland, über die Grundlagen der “Standortmarke Made in Germany” und den Abbau des Vorurteils innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte.

Der Geschäftsführer und Gründer des Büro für Markenentwicklung Hamburg ist Autor zahlreicher Sach- und Fachbücher zum Thema Marke und Markenführung sowie regelmäßig als Experte zu diesen Themen in den Medien vertreten (u.a. ARD Markencheck, ARD Plusminus). Sein Artikel erschien zuerst im Juli 2019 in Tichys Einblick.

Literatur:

Zschiesche, Arnd: Ein Positives Vorurteil Deutschland gegenüber. Mercedes-Benz als Gestaltsystem. Ein markensoziologischer Beitrag zur Vorurteilsforschung. LIT Verlag, Berlin, 2007

Zschiesche, Arnd/Errichiello, Oliver: Marke statt Meinung. Die Gesetze der Markenführung in 50 Antworten. GABAL, Offenbach, 2018

Blogbeitrag Markenradar: Marke als positives Vorurteil, vom 18.02.2015.

Ein Positives Vorurteil Deutschland gegenüber. Mercedes-Benz als Gestaltsystem
Marke statt Meinung. Die Gesetze der Markenführung in 50 Antworten.

[1]Auch die chinesischen Eigner der Marke sind sich dessen bewusst und vermeiden jede Assoziation mit China in der Kommunikation nach außen.